Die Überwindung gesellschaftlicher Gegensätze (Teil II)

Fortsetzung von Teil I

 

Man hat von Essayisten und Polemikern, aber auch vonseiten einiger Minister die Behauptung aufstellen hören, dass Islamisten und (radikale) Linke den Terrorismus intellektuell befeuern. Ist diese Behauptung gerechtfertigt? Und was soll dieser ideologische Frontalangriff?

Was schlimm ist, ist, dass diese Sache die Entwicklung holzschnittartiger, einseitiger oder reduktionistischer Denkweisen beschleunigt. Jeder Widerstand gegen die wachsende Ablehnung des Islams wird zu einem Zeichen von „Islamogauchismus“ missinterpretiert [zu deutsch etwa „Islam-Linke“ – Anmerkung des Übersetzers], deren Anhänger sich aber eher dadurch auszeichnen, weder Unterstützer des Islams noch der radikalen Linken zu sein oder gar die Attentate zu befürworten. Unglücklicherweise gibt es – wie schon 1914, 1933, 1949 oder zu allen übrigen Zeiten kollektiven Wahns – Philosophen, welche die Hysterie mit am stärksten befeuern. Am gefährlichsten ist es, wie es in der Vergangenheit schon mehrfach geschehen ist, wenn zwei „Frankreichs“ einander unversöhnlich gegenüberstehen. Als Positivbeispiel ist zu nennen, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts das republikanische und laizistische Frankreich das monarchistische, katholische und konservative Frankreich hat überwinden können. Als Negativbeispiel kann man das Jahr 1940 nennen, als sich ein reaktionäres Frankreich nach der militärischen Niederlage durchsetzte. Der aktuelle Lockdown legt den herrschenden Konflikt vorübergehend auf Eis, der ansonsten zu eskalieren droht. Was wird nach dem Ende der allgemeinen Beschränkungen geschehen? Wird es neue politische Auflösungs- oder Neubildungserscheinungen geben? Zwei Frankreichs stehen sich argumentativ gegenüber: das identitäre und das humanistische. Man kann dies verurteilen – oder gründlich untersuchen und aufarbeiten.

 

Könnte der Zusammenprall der beiden „Amerikas“ ein Vorgeschmack für das sein, was Frankreich anlässlich der anstehenden Präsidentschaftswahl droht?

Zum jetzigen Zeitpunkt [21.11.2020 – Anmerkung des Übersetzers] wissen wir nicht, ob Donald Trump zu einem Aufruf zur Gewalt fähig ist, um seinen Posten zu behalten. In den Vereinigten Staaten herrschen enorme gesellschaftliche Spannungen und ich weiß nicht, ob es zu einer Explosion oder doch eher zu einer langsamen Befriedung kommen wird. Auf dieser Seite des Atlantiks haben sich bislang die beiden Frankreichs noch nicht wirklich herauskristallisiert – es wird wohl noch zu Auflösungs- oder Neubildungserscheinungen kommen. Ich sehe durchaus die Möglichkeit einer Politik des Gemeinwohls, welche die besten Absichten aller beteiligten Parteien in sich vereint und neue Wege beschreiten wird – in ökonomischer, sozialer und ökologischer Hinsicht. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich diese Ideen von keiner Organisation oder politischen Führungskraft vertreten. Wenn ich nach links schaue, sehe ich erste, undeutliche Anzeichen von neuen Zusammenschlüssen und Koalitionen. Auf der anderen Seite sehe ich aber durchaus die Möglichkeit, dass ein Außenseiter das Rennen machen kann, der für Ordnung und Disziplin steht. Das wäre das andere Frankreich in Person des Generals Villiers. Aber noch ist nichts entschieden, wir werden im kommenden Jahr noch einige Überraschungen erleben.

 

Wie lässt sich ein solches Auseinanderdriften verhindern?

In meiner Jugend war ich Anhänger einer kleinen Partei, die für den gleichzeitigen Kampf gegen Faschismus und Stalinismus propagierte. Während der Besetzung Frankreichs wandte ich mich zunächst dem Kommunismus zu, von dem ich mich aber wieder nach einigen Jahren abkehrte, und erneut sah ich mich einem Zweifrontenkampf gegenüber: der gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung und gegen den europäischen Kolonialismus. Seit Jahrzehnten versuche ich, beiden einander gegensätzlichen Formen der Barbarei zu widerstehen: der Barbarei des Hasses, der Dominanz und der Verachtung, die aus der Untiefe der Geschichte stammt – und die kalte, berechnende Barbarei unserer Zivilisation, deren Kennzeichen die Hegemonie, der ungezügelte Profit und das Kalkül sind. Ich konnte der Hysterie während des Weltkrieges widerstehen, als man alle Deutschen über einen Kamm zu scheren versuchte, und der Hysterie des Stalinismus, die jede Kritik am Kommunismus bestrafte. Ich werde auch den neuen Erscheinungsformen der Hysterie widerstehen.

 

Unter den gegenwärtigen Umständen sehe ich die Notwendigkeit, an zwei Fronten zu kämpfen: zum einen der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus, der Islamophobie und dem Antisemitismus zu widerstehen – alles Formen von Barbarei in unserer modernen Zivilisation. Auf der anderen Seite sehe ich den Kampf gegen den mörderischen Fanatismus, der allen historisch alten Formen von Barbarei innewohnt. Dagegen vorzugehen bedeutet, Gewalttaten strafrechtlich zu verfolgen; dazu gehören aber auch präventive Maßnahmen, beispielsweise der Umgang mit den Vorstädten [den Banlieus – Anmerkung des Übersetzers], die Verringerung sozialer und ökonomischer Gegensätze und eine Wiederbelebung der humanistischen Bildung.

 

Was sollten wir insbesondere in den Schulen in pädagogischer Hinsicht noch tun?

Seit Beginn des islamistischen Terrors habe ich Vorschläge gemacht, die grundlegenden Voraussetzungen, einen kritischen Geist zu entwickeln, mit in die Lehrpläne zu integrieren. Dazu zählt der prüfende Verstand [esprit interrogatif], der bei Kindern zu finden ist, aber mit dem Alter schwächer werden kann. Es ist wichtig, diesen zu fördern. Wenn man den prüfenden Verstand stimuliert, dann sollte auch der problemorientierte Verstand [esprit problematiseur] gefördert werden. Dieser wiederum hinterfragt Tatsachen, die als gegeben erscheinen – sei es weil wir die Dinge so sehen, wie der Lauf der Sonne am Himmel, oder weil sie von der Kultur und Gesellschaft so festgelegt werden, wie die Rechtmäßigkeit einer diktatorischen Herrschaft oder der Glaube an eine rassische Überlegenheit. Erinnern wir uns daran, dass die wesentliche Tugend der Renaissance gewesen war, die Welt in Frage zu stellen – Ursprung aller Wissenschaften; Gott in Frage zu stellen – Ursprung der Philosophie; die Meinung jeder Autorität zu hinterfragen – Grund für das Entstehen eines demokratischen oder bürgerlichen Denkens. Im Hinterfragen all dessen steckt der Kern der Trennung von Kirche und Staat.

 

Der kritische Geist setzt darum die Lebendigkeit eines fragenden und eines problemorientierten Verstandes voraus. Ebenfalls wichtig ist die Selbstbefragung, die von unserem Bildungssystem gefördert werden muss, damit jeder Schüler den Grad von Selbstwahrnehmung erlangt, die schlussendlich zur Selbstkritik führt. Ein kritischer Verstand ohne Selbstkritik läuft Gefahr, in eine Kritik all dessen zu verfallen, was nicht Teil der eigenen Identität ist. Was wäre ein kritischer Verstand ohne Selbstkritik. Der kritische Verstand setzt notwendigerweise einen rationalen Verstand voraus, der fähig ist, die Verfahren der Induktion, Deduktion und Logik bei der Untersuchung von Daten und Fakten anzuwenden. Der rationale Verstand setzt nicht weniger notwendig das Bewusstsein um die Grenzen der Logik angesichts einer Realität voraus, die man nur deswegen erkennt, wenn man ihre Widersprüchlichkeit akzeptiert oder wenn man Gegensätze miteinander verknüpft. Ein kritischer Verstand, der diese Voraussetzungen erfüllt, kann und muss sich frei ausbilden; er muss aber auch zur Kritik an der Kritik fähig sein, wenn diese das Maß überschreitet oder einzig die negativen Aspekte von Erscheinungen, unserer Wirklichkeit oder von Ideen transportiert. Schließlich muss die Schulung des kritischen Verstandes akzeptieren, dass sich die Kritik auch auf die Schulung selbst richtet. Der kritische Verstand umfasst also das gesamte geistige Grundgerüst, was im Allgemeinen übersehen wird.

 

Hier geht es offenbar um beträchtliche Reformen, beginnend mit einer Veränderung des Denkens. Glauben Sie, dass dies tatsächlich umgesetzt wird?

Wie bereits erwähnt, ist die wirtschaftliche Konjunktur rückläufig und Gegensätze prallen verstärkt aufeinander. Ich habe nie aufgehört daran zu erinnern, dass die beiden zurückliegenden Jahrzehnte durch schwerwiegende politische, wirtschaftliche, soziale und geistig-moralische Rückschritte gekennzeichnet waren: die allgemeine Krise der Demokratie; Verfolgungen religiöser Minderheiten beispielsweise in Indien oder China; die Vorherrschaft des Profits; wirtschaftliche Probleme, die zu Massenaufständen führen und die unterdrückt werden – wie in Algerien oder Weißrussland; die Vorherrschaft einer bestimmten Denkweise, die sich auf Kosten-Nutzen-Analyse und Hyperspezialisierung gründet, die aber nicht in der Lage ist, die Komplexität menschlicher Bedürfnisse und Probleme zu verstehen – sei es auf individueller, nationaler oder globaler Ebene. Noch wissen wir nicht, ob der neue US-Präsident in der Lage sein wird, den Gegensatz USA-China oder die Konfrontation zwischen der Koalition aus den USA, Israel und Saudi-Arabien und den iranischen Ayatollahs zu befrieden.

 

Die Türkei hat sich zu einer islamischen Regionalmacht im Mittelmeer entwickelt, das machtbewusste China zerstört derweil die Autonomie Hongkongs und scheut auch die Auseinandersetzung mit Indien nicht. Aserbaidschan und Armenien befinden sich inmitten eines ethnisch-religiösen Konflikts. Das multireligiöse Libanon hat sich bis heute nicht aus seiner Krise befreien können. Allenthalben ufert das Wettrüsten aus, und Europa ist nicht in der Lage, die innere Uneinigkeit zu überwinden. Die Hoffnungen eines allgemeinen Erwachens des Umweltbewusstseins, einer Neugestaltung der Globalisierung, die zu Abhängigkeiten ohne wirkliche Solidarität geführt hat, scheinen überall zu schwinden. Es gibt keinen Rückfall in alte Zeiten, sondern eher hin zu einer Entwicklung des schleichenden Niedergangs. Nur eine Minderheit hat den Willen, politisches Denken und Handeln neu mit Leben zu füllen, um Wege zu einer Erneuerung von Demokratie, Wirtschaft und Umweltschutz zu eröffnen.

 

Auf der anderen Seite sind Schwarzweiß-Denken und Fanatismus auf dem Vormarsch, Nationalismus und Rassismus verstärken sich. Zeitgleich vergrößert sich das Ausmaß der Klimakrise, was auch die Menschheit immer mehr in eine bedrohliche Situation führt. Eine gigantische globale Krise bahnt sich da an, die alle Völker und die Menschheit als Ganze bedroht. Eine Krise weckt auf der einen Seite die kreative Suche nach neuen Lösungen, auf der anderen Seite verstärkt sie Ängste und Sorgen, die autoritären Herrschaftsformen in die Hände spielen. Wenn wir den Weg des Niederganges weiter voranschreiten, dann enden wir in postdemokratischen Herrschaftssystemen, die über die vielfältigsten technischen Möglichkeiten verfügen, das Individuum zu kontrollieren – wie es uns das Beispiel China vor Augen führt. Der mögliche Lauf der Dinge ist äußerst beunruhigend. Sogar die Möglichkeit eines um sich greifenden Umsturzes, wie das Attentat von Sarajevo beispielhaft den Beginn des Ersten Weltkrieges markiert, ist vorstellbar, Kriege, die mit Computern geführt werden, Eroberungen digitaler Infrastrukturen anderer Nationen, Einsatz von Kampfrobotern oder im schlimmsten Falle die Verwendung von Kernwaffen. Das Unwahrscheinliche kann den Lauf der Geschichte verändern.

 

Können wir es schaffen, in Frankreich das Unwahrscheinliche wahr werden zu lassen?

Ich glaube, dass es notwendig ist, Rückzugsorte für das Leben und den Geist zu begründen und diese miteinander zu vernetzen, die uns die Möglichkeit aufzeigen können, dass uns neue Wege offenstehen und dass wir nicht von unserem fehlerhaften Denken irregeleitet werden. Ich selbst habe den schlafwandlerischen Weg ins Verderben der 30er-Jahre miterlebt. Heute sind wir von gänzlich anderen Gefahren umgeben, die aber nicht weniger groß sind, es ist eine neue Form des Schlafwandelns, die uns blind macht. Um Heraklit zu zitieren: „Sie schlafen mit offenen Augen.“

 

Originalartikel „Que serait un esprit critique incapable d’autocritique“ erschienen am 21. November 2020 in der Printausgabe der Le Monde. Verfasser: Nicolas Truong. Erweiterte Übersetzung.

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