Ein Mann Celle

Die Aller bei Celle

Die Reise war lange gebucht, zwei Personen im Doppelzimmer mit Frühstück. Tolles Hotel, das vermeintlich beste am Platz. Dann kam Corona. Und die Angst mancher, sich wer-weiß-wo anzustecken. Ich bleibe zu Hause, mich kriegen keine zehn Pferde nach Celle! Sagt meine Frau. Dabei hätte ich weitaus mehr Pferde aufbieten können, sie dennoch dorthin zu kutschieren. Im Umland der Stadt, am Rande der Lüneburger Heide gelegen, gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende von ihnen. 1735 gründete ein Hannoveraner Hochadel ein Landgestüt vor den Toren der alten Stadt. Wiesen und Weiden sind bevölkert von großen und kleinen Herden, weiße, graue, braune, schwarze Pferde. Keine zehn Pferde? Kein Problem, ich bring dir zwanzig, Schatz.

Ok, dann also allein in den Norden. Weswegen? Der Altstadt voller Fachwerk wegen. Oder des grünen Umlandes, so weit das Auge reicht. Dazu Wasser, Bäche, Flüsse, ja Ströme! Wenn es erlaubt ist, die Aller einen Strom zu nennen. Immerhin der größte, nicht ins Meer mündende Fluss Norddeutschlands. Woher nur all das Wasser stammt … es mäandert kaum, fließt so gemächlich, so still durchs Land. Die Aller ist zum Tiefenentspannen. Es bedarf keiner Angel – lasst die Fische im Fluss! Setzt euch ans Ufer und schaut dem torfig-braunen Wasser beim Dahinfließen zu.

Des Nachts im unverständlich schwülen Hotelzimmer (draußen sollen es 10 oder 12 Grad sein) schlage ich reihenweise Mücken tot. Meine Rache für Stunden um Stunden vertaner Nachtruhe. Blut klebt an Wänden und Vorhängen. MEIN BLUT. Mücken kann ich killen, ohne zu zucken. Ich möchte diese Viecher martern, mich an ihrem Ende erfreuen, während sie unter meinen Fingern und Fäusten ihr unwertes Leben aushauchen. Eine sieht aus wie die andere. Mich interessiert nicht ihre Phylogenese, warum ihre nackte Existenz auch von meinem Blut abhängt. Als Lebensform ist sie mir widerlich, ein Hassobjekt, sobald ich ihrer auch nur ansichtig werde. In dieser Nacht müssen viele dran glauben. Ich empfinde nichts für sie, als sie mit einem kalten Klatschen ein Ende finden.

Am Tag zieht es mich an den Fluss. Mächtige, knorrige Schwarzpappeln stehen mancherorts, man muss lange suchen. Weiter südlich kennt man diese Bäume auch als Belsen. Ein seltener Anblick in dieser Region, wie überhaupt ihr Vorkommen mehr und mehr schwindet. Eine Salbe aus ihren Knospen soll angeblich Schmerzen lindern. Diese verschüttete Erinnerung kommt in meinem Fall zu spät, die Mückenstiche der letzten Nacht tun mehr weh denn je. In ihrem Bestand gefährdet, bergen Belsen die heilende Kraft der Natur. Kaum wer von denen, die an den Ufern sitzen, den Hund zum Scheißen ausführen oder mit Taschenmessern verliebte Herzen in die Rinde ritzen, ahnt, welche Kraft in ihnen steckt. Jeder nur für sich, niemand sieht den anderen. Meine Kippe, meine Hundekacke, mein Initial im Baum. Was, wenn es Tausende, Millionen gleich täten?

Wie immer ist es der Mensch, wissentlich oder unbewusst, der anderes Leben gefährdet, Leben auslöscht, Lebensräume vernichtet. Warum? Weil Flüsse begradigt, Brachen bebaut und beackert, prospektives Altholz eingeschlagen werden soll. Expandierender Lebensraum der einen gegen den zunehmend impansiven Lebensraum der anderen. Ein ungleicher Kampf, bei dem vermeintlich der Mensch obsiegt. Aber die Zeiten ändern sich, schneller denn je. Ahnende Worte und mahnende Stimmen gab es in reichlicher Zahl – Jahrzehnte im Voraus. Hören oder handeln wollte kaum wer. Nun fliegt uns alles um die Ohren oder rutscht uns vor die Füße. Das Land gibt nach, Immobiles wird Beine gemacht, in Bette gefasste Gewässer eilen mit Urgewalt aus den Federn.

Warum diese Gedanken an diesem Ort? Weil hier, wie an wenigen anderen Orten, die Erfahrung der Begrenztheit des Lebens, der gewaltsamen Übergriffigkeit bis hin zur willkürlichen Vernichtung zigtausender Existenzen erlitten werden musste und heute noch lehrend und lernend erlebt werden kann. Und weil an Orten wie diesen immer wieder neu zu Bewusstsein kommt, dass jeder Mensch DOCH eine Insel ist, allein in des Ozeans Weiten. Allein erblickst du das Licht der Welt, allein gehst du deinen Lebensweg, meisterst oder scheiterst früh, spät oder nie. Und allein sinkst du hinab in die Erde oder entschwindest aus Schornsteinen in luftige Höhen. Weitsicht zu Lebzeiten reicht bei vielen nur bis an den Horizont eines unverständlich leeren Meeres. Einsicht herrscht nur in all das, was sich auf dieser meiner Insel tummelt und tut. Vorsicht lasse ich nur in Bezug auf das unmittelbar vor mir Liegende, mit unmittelbaren Sinnen Erfahrene walten. Was geht mich das Andere, das Fremde, das nicht Sichtbare, das nicht Einsichtige an.

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