
Neulich war ich mal wieder unterwegs. Mit der S-Bahn sollte es in die Nachbarstadt gehen, wo ich ein paar Dinge zu erledigen hatte. Ein Freund war zufällig mit mir auf derselben Strecke
unterwegs, und durch unsere obligaten MNS-Masken hindurch nuschelten wir uns die Fahrtzeit über an, was diese engstirnige Auslegung des Maskentragens solle, wenn wir zwei als alte Freunde, die
wir auch während der gesamten Corona-Zeit hindurch eisern aneinander als einzig verbleibende Trinkgenossen festhielten, unbedrängt einander gegenübersitzend uns allenfalls wechselweise den
Speichel an die Frons befördern können und niemand weiter zu Schaden käme. Außerhalb der Öffis dürfen wir schließlich auch ohne Mundschutz beieinanderstehen – und unser Abstand auf öffentlichen
Plätzen ist keinesfalls größer als der, den wir hier auf unserer Sitzseite der S-Bahn einhielten.
Während der halbstündigen Fahrt ergrantelten wir uns eine gemeinsame Haltung bezüglich des Sinns und Unsinns dieser Masken, zumal es in den Öffentlichen Verkehrsmitteln noch nicht einmal die
Vorschrift gab, auch tatsächlich medizinische Mundschutzmasken tragen zu müssen, sondern allenfalls eine stoffliche Barriere, mit der sich Mund und Nase in ausreichenden Maße bedecken ließen. Von
wirksamem Schutz konnte angesichts solcher Wirkwaren nicht wirklich die Rede sein. Uns schräg gegenübersitzend, durch den Gang und die gesunde Distanz von drei Niesweiten getrennt, saß ein
Pärchen, ebenfalls eine Viererbank für sich vereinnahmend. Beide waren antiviral ausgesprochen überstaffiert, trugen MNS-Maske und Brillen und waren überdies beeinweghandschuht. Corona kann
kommen!
Nach der Hälfte der Fahrt entledigten wir uns halbherzig des Gesichtsschutzes, um ungestörter reden zu können. Indigniert wurden wir von dem Pärchen inspiziert, das einander etwas zumauschelte,
ohne dass wir dessen jedoch gewahr werden wollten. Während wir in den Zielbahnhof einrollten, hatten wir zwei uns derweil warmgelästert und mussten nun wieder den Ernst der Lage anerkennen, als
der Zug zum Stehen kam. Wir schlüpften in unsere Gesichtsmasken und bemerkten, wie das Pärchen mit Fahrrädern bewaffnet plötzlich neben unseren Sitzbänken stand und zu uns herabsah. „Sagen Sie
mal“, meinte der Herr mit der Maske, „ich habe Ihnen während der Fahrt zufällig zuhören müssen.“ „Ja?“, meinte ich und stand zusammen mit dem Freund auf, weil sich die Türen öffneten. „So was
können Sie nur sagen, weil Sie nicht selber betroffen sind!“ Ich erahnte die Betroffenheit des Mannes anhand der Restmimik seines ansonsten verhüllten Gesichtes. Er schob sein Rad ins Freie und
suchte schiebend das Gespräch mit mir. Auch außerhalb der Bahn machte er keine Anstalten, Handschuhe und Mundschutz abzulegen „Was genau meinen Sie, was soll ich gesagt haben?“, entgegnete ich
und sah mich auf dem Bahnsteig stehend um, da ich auf den Freund wartete, der nach mir aus dem Wagen stieg. „Na das mit den Schutzmaßnahmen, dass die angeblich überzogen seien, völlig
übertrieben. Schauen Sie sich doch mal die Bilder aus New York an, mit den Zehntausenden auf überfüllten Krankenhausfluren, den zig Tausend Toten, diesem Chaos! Wollen Sie solche Bilder
vielleicht in Deutschland haben?“ Der Mann war aufgebracht, keine Frage. „Wir haben in Deutschland doch genau deswegen so wenig Fälle, weil wir sehr früh alles dicht gemacht haben, alle
Geschäfte, die Fabriken, die Firmen. Das hat doch Menschenleben gerettet! Wollen Sie die Verantwortung für Tausende Tote übernehmen, nur weil sie einen Lockdown für übertrieben halten?“
Mir wurde warm – wie immer, wenn ich merke, dass mein Gegenüber sich in Rage redet. Die Hände des Maskierten waren in den Lenker seines Rades verkrallt und hinderten ihn offenkundig daran, seiner Neigung zu Schlaganfällen zu frönen. „Es ist unverantwortlich, unsozial, nur an sich zu denken! Und nicht an die vielen Menschenleben, die man retten muss mit diesen Maßnahmen!“ Er schulterte das Rad und stieg mit uns die Treppen vom Bahnsteig hinab in den Bahnhof. „Sind Sie denn sicher, dass es die viele Toten in Deutschland auch gegeben hätte?“, fragte ich stoisch zurück. „Kennen Sie das Ausmaß der Verbreitung des Virus, wissen Sie, wie viele Menschen in welchen Städten, welchen Gemeinden infiziert sind? Genau das ist der springende Punkt! Die allgemeine Unsicherheit, die bei unseren Wissenschaftler genauso herrscht wie bei den politisch Verantwortlichen. Niemand weiß etwas Genaues, und obwohl es keine gesicherten Erkenntnisse gibt, wird ein komplettes Land, die gesamte Bevölkerung beruflich und sozial depriviert und quarantänisiert. Das ist eigentlich mein Hauptkritikpunkt.“ Der Maskenmann will Luft holen, ich kann sehen, wir er das Tüchlein in die Mundhöhle ein atmet. „Und dasselbe gilt für die obligate Maskenpflicht“, fahre ich fort und lasse den Radler charmant hyperventilieren. „Wir alle tragen Masken, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass Sie oder ich oder mein Kumpel hier das Virus in sich trägt, sehr gering ist. Wir beide könnten eine Wette abschließen: Sie würden für sich selbst die Hand ins Feuer legen, dass Sie gesund sind! Weil Sie Abstand halten, sich die Hände waschen, nicht leichtfertig sind, weil Sie auf sich Acht geben. Sehen Sie, und genau dasselbe kann ich auch für mich behaupten. Und mein Kumpel hier für sich ebenfalls. Wir alle könnten schwören, kerngesund zu sein. Und warum: WEIL WIR ES SIND.“ Seine Brillengläser waren milchig beschlagen, die Maske troff vor Atemluft. Eine Wut-Apnoe drohte, ihm vollends die Luft zum Argumentieren zu nehmen. „Mit Ihnen ist nicht zu reden. Einfach leichtfertig unser aller Leben zu gefährden!“, schnaubte er und schob davon. Seine Begleiterin hatte mich während der gesamten Konversation fixiert und schüttelte ischämisch ihre bleiche Maske, während sie sich ebenfalls abwandte und dem Mann nachtrottete.
„Rationality belongs to the cool observer, but because of the stupidity of the average man he follows not reason, but faith and this naïve faith requires necessary illusion and emotionally potent oversimplifications which are provided by the “mythmaker” to keep the “ordinary” person on course.“
Reinhold Niebuhr (1892–1972) auf Blog Karlshochschule
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