Flatten the curve!

Die Mutter aller Flatten-the-curve-Grafik

Die paradigmatische Weiheformel in pandemischen Zeiten ist der Dreiwortsatz "Flatten the curve". Ein Zeitungsjournalist schwärmte einmal von schönen Dreiwortsätzen, allesamt aus Italowestern stammend, so was wie „Zieh du zuerst“ oder „Es gibt Bohnen“ oder auch „Hängt ihn höher“. Der schönste Dreiwortsatz der aktuellen Krisenzeit ist „Planier die Kurve“ ‒ was im Deutschen eher amüsant klingt, lange nicht so polyglott und weltgewandt wie das Original. Unser Dreiwortsatz stammt aus keinem italienischen Streifen, aber dieser impertinente Imperativ hat es geschafft, sich stärker optisch denn akustisch in unser Dasein zu fressen als Bud Spencer durch eine Pfanne voller Bohnen.

 

Unter „Flatten the curve“ lässt sich die gesamte Commedia der Corona-Krise subsumieren: vom Beginn der Reise hinab in die Hölle steigender Fallzahlen und Toten; von den verzweifelten Versuchen der Läuterung einer bußwilligen Weltkonsumentenschaft, allen Lastern eines entgrenzten Globalkapitalismus im Lock- und Shutdown zu entsagen; bis hin zum erlösenden Paradies einer befreienden, sukzessiven Aufhebung von allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beschränkungen, die sich in einem partikelgefilterten Aufatmen ganzer Völkerscharen entlädt. Zum Personal dieser entgöttlichten Tragikomödie gehört zum einen der feierliche Auftritt sogenannter Experten, mindestens Professores, die mitsamt Kanzlerin und Gesundheitsminister die heilige Trias der Bundes-Mantiker bilden; ins zweite Glied getreten verblassen mehr und mehr die konsternierten Vorstandsgesichter deutscher DAX-Konzerne, deren globalisierte Gewinnmargen sich in Luft auflösen wie die am stahlblauen Himmel weniger werdenden Kondensstreifen des jetzt fehlenden fliegenden Flugzeugparks. Und zu guter Letzt – Leck mich im Arsch! – die schockgefrorene Bundesbürgerschaft, die einesteils brav den medizinal präskribierten antiviralen Maulkorb trägt, während andernteils eine wachsende Zahl von Wütenden sämtlichen Politikern und Medizinern immer vernehmbarer den schwäbischen Gruß entbietet.

 

Die mantische Zahlenmystik, die für diagrammatische Endprodukte wie unsere „Flatten the curve“-Grafik verantwortlich zeichnet, erfährt in dieser Pandemie eine neue, ungeahnte Blüte. Denn sie steht für das okkulte Grundrauschen einer niemals zuvor erlebten szientifischen Allüberwachung der Menschheit, die sich in einer Bilder- und Zahlenflut sondergleichen über uns ergießt: Kein Tag ohne Coronazahlen! In der Dramaturgie eines Informationsmediums in Zeiten wie diesen, seien es TV, Print oder Online, wird das Zahlenwerk nicht einfach präsentiert, sondern mystisch erhöht inszeniert. Ein zuvor vermutlich in öden Excellisten vorliegender Wust an Werten wird diagrammatisch aufbereitet, um den inhärenten Informationsgehalt der Zahl überhaupt erlebbar und damit verstehbar zu machen. Zugleich jedoch – form follows function – wendet sich die in ein Bild überführte Zahl als Imperativ an den Rezipienten, der im Idealfall instinktiv eine Handlungsempfehlung für sich ableitet, was wiederum dem sozialtechnischen Kniff entspricht, eine Gesellschaft als Ganze geschickt physisch oder psychisch in eine bestimmte Richtung zu lenken.

 

Wollen wir uns die Bildschablone, die sich hinter „Flatten the curve“ verbirgt, einmal genauer anschauen, die aufgrund ihrer Augenfälligkeit sicherlich dem informierten Teil unserer Bevölkerung mehr als bekannt sein dürfte: eine synoptische Gegenüber- bzw. Miteinanderstellung zweier grafischer Kurven in der Form von Parabeln, wobei eine der beiden hoch aufsteigend, nahezu spitz zulaufend dargestellt wird, während die andere eine flache und nur leicht gewölbt Form aufweist. Seine Zuspitzung erfährt dieses Diagramm durch die Verwendung einer parallel zur X-Achse verlaufenden Linie, an die sich von unten her sanft die flachere der beiden Parabeln anschmiegt. Diese Linie, so unscheinbar sie eine Gerade von links nach rechts beschreibt und vermeintlich für Ruhe und Ausgeglichenheit stehen könnte, hat es jedoch an gesellschaftlicher Sprengkraft in sich: Sie symbolisiert nichts weniger als den Rubikon der Corona-Krise, die gnadenlose Grenzziehung zwischen Chaos und Kontrolle, zwischen Überleben und Übersterblichkeit.

 

Es ist die Kunst der Diagrammatik, dem Rezipienten (un)bewusst eine dem Absender des Schaubildes am Herzen liegende Handlungs- oder Denkanweisung zu vermitteln. Sowenig es eine wertfreie Wissenschaft gibt, sowenig geriert sich das bunte Bildchen als harmlose Infografik, die dem geneigten Leser/Seher einfach nur einen strukturierten Haufe von Zahlen und Daten kredenzen möchte, sozusagen als ballaststoffreiche Beilage zum morgendlichen Marmeladenbrot oder mittäglichen Mensa-Mahl. Die Kunst der Infografik besteht darin, zeitliche und kausale Zusammenhänge eines zugrunde liegenden Geschehens auf eine gewisse Art so darzustellen, dass der Absender seine IMMER implizite Botschaft in das Hirn des geneigten Lesers/Sehers injiziert. Und nicht nur das: Zur Erfüllung des Geschäftsmodells eines Informationsmediums gehört es ebenso, über shock and awe die maximale Aufmerksamkeit des Publikums zu generieren, am besten durch hypnotische Effekte oder eine dreidimensionale Darstellung zweidimensionaler Sachverhalte, es zu fesseln und durch wiederkehrende Aktualisierungen von Zahlen, Daten, Fakten im Stunden- oder Tagesrhythmus zu binden, um im Verwertungsfunnel diese Art der Währung dann monetär konvertieren zu können.

 

„Flatten the curve!“ ist das Mantra einer neuen Zeit, das Ausrufezeichen in einer Welt, die sich unverwundbar hielt: eine Politik, die – global betrachtet – deutlicher denn je zeigt, dass sie denselben Grad rationaler Entscheidungsfindung besitzt wie Dr. Lieschen Müller, trotz vermeintlichen Expertenrates und eigenen hochqualifizierten Personals; eine Wirtschaft, die vor Wut schäumend und dennoch voller Ohnmacht anerkennen musste, dass das höchstes Ziel in unserer Gesellschaft die menschliche Gesundheit ist und das zur Rettung von Menschenleben Billiarden an Unternehmensgewinnen vernichtet (oder sagen wir besser negativ kapitalisiert) werden; eine Wissenschaft, die sich trotz ihres systemrelevanten Charakters nicht entblödete, mit irritierenden Parzengesängen oftmals mehr zur Verwirrung denn Klärung beigetragen zu haben und stets Gefahr läuft, von einem immer geringeren Teil der Bevölkerung für voll genommen zu werden; und zuletzt ein Bürgertum, das in seiner Allzumenschlichkeit einen nie zuvor erahnten, weil nie erlebten Offenbarungseid ableistet und zeigt, dass alle Menschen zu allen Zeiten in Kriegen, Krisen und sonstigen Nöten das Tiefste ihrer Seelen offenlegen: die Furchtsamen und die Folgsamen, die Manischen und die Martialischen – die gesamte Klaviatur der menschlichen Natur wird jeden Tag aufs Neue aufgeführt. Zeit, an dieser Stelle Dank zu sagen, Zeuge dieses Schauspiels sein zu dürfen!

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