Das Ende der Sommerzeit besiegelte endgültig das Schicksal unserer neurotischen Nation. Früher als sonst verlischt das Tageslicht, Dämmerung verdunkelt deutsche Gemüter, die in Ermangelung hepatischer Gemeinschaftserlebnisse ihren Feierabend vor heimischen HDTV-Geräten verhocken. Klaustrophobische Kontrollverluste oder Kontrollzwänge heizen die familiäre Stimmung auf, entladen sich entweder sofort an einstens stummen Esstischen oder verzögert in Supermarktschlangen während gern vermiedener, meist aber dringend notwendiger Einkäufe. Die Onlinekäufer, die Amazonen des Digitalen Zeitalters, die digital natives und E-Commerce-Neurotiker wollen ô Wunder RAUS – jetzt wo alles daheim bleiben soll.
Es droht ein Deutscher Herbst, wenn Radikale und Konformisten an leer gekauften Klopapier-Paletten einander Verachtung und Angst aus zu stummen Schreien geformten Masken entgegenstiemen. Die Hysterie behandschuhter Reinheitsfanatiker, die an den Supermarktkassen zur kontaktlosen Kartenzahlung ihre Plastikbeutel hervornesteln, sich über die Hand stülpen, um geschützt mit dem Finger ihre Pin-Codes eingeben zu können, ist bei aller gebotener Distanz mit den Händen zu greifen. Die Kohorten Klopapier hortender Proleten-Prepper, die sich ihren Weg mit dem vollgestopften Einkaufswagen durchs Gedränge rüpeln, bieten wahnhafte Einblicke in die Natur einer um sich greifenden Massenneurose. Und welche Rückschlüsse lassen sich während eines gewöhnlichen Spazierganges auf das Verhalten eines Passanten ziehen, der – in Ermangelung eines vonseiten der Coronaschutzverordnung (CoronaSchVO) dekretierten Abstands von anderthalb Metern – sich aufs äußerste an den äußersten Rand des Weges drückte und sich im Moment des Passierens en passant abdrehte, um all seine fazialen Öffnungen vor einer drohenden Ansteckung zu schützen.
Ich: „Das geht jetzt aber wirklich zu weit! Was soll der Unsinn?“
Der Mann: Wendet sich in gebührendem Abstand um, reckt den Mittelfinger in die Luft.
Leider gibt es innerhalb der CoronaSchVO keinen Paragraphen, der es erlaubte, solch hysterischen Neurotikern einfach mal das eigene Unverständnis in die Visage zu rotzen. Was ohne Zweifel die Gräben zwischen Nominalisten, die alles für eine Übertreibung, und Realisten, die sich in jeder Minute an der Schwelle zur Aufnahme in die Intensivstation wähnen, weiter vertiefen, die Debatte weiter verschärfen würde. Wie soll man aber in solchen Situationen reagieren, was tun, wenn das Verhalten der Mehrzahl, wenn Mehrheitsentscheidungen dem sogenannten, oft belächelten „gesunden Menschenverstand“ zuwiderlaufen? Wenn es eine mehrheitliche Unterstützung, eine Rückendeckung für Gesetze und Anordnungen gibt, denen ein einzelner Mensch, unbeeinflusst von äußeren Zwängen, kaum Folge leisten würde? Wenn epidemisch um sich greifende Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Soziopathien das Leben einer aufgeklärten, klar denkenden, sachlich argumentierenden und ruhig agierenden Minderheit ebenfalls mehr und mehr in Mitleidenschaft ziehen?
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