
Die aktuell größte Sorge des Öffentlichen Personenverkehrs (ÖV und ÖPNV) sind seine vielen Millionen Fahrgäste. Vielmehr ihr massives Fernbleiben aus Bussen und Bahnen, Zügen oder sonstigen Verkehrsmitteln. COVID 19 hat vielen Menschen offenbar das Vertrauen geraubt – schlimmstenfalls für sehr lange Zeit –, im Personenverkehr noch sicher von A nach B zu gelangen. Die aktuelle Studie aus dem Jahr 2020 „Beobachtung der Mobilität“, die die französische UTP (Union des transports publics = Gesamtverband des ÖV & ÖPNV) seit einigen Jahren publiziert, gibt wenig Anlass zu Optimismus und verunsichert die französischen Betreiberunternehmen ebenso wie die Städte und Gemeinden. Eine Zahl springt in dieser Studie, die am 19. November veröffentlicht und zuvor im September mit 1500 Teilnehmern in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern durchgeführt wurde, besonders ins Auge: 30 % aller Fahrgäste, die bislang regelmäßig ÖV oder ÖPNV nutzen, haben die Absicht, auch nach einem Ende der Pandemie deren Nutzung einzuschränken oder ganz darauf zu verzichten. Ein gutes Drittel der Befragten (27 %) will weniger oft die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, wohingegen 3 % in Zukunft komplett auf Öffis verzichten wollen. Womit die beobachtete Tendenz schon während der ersten Lockdown-Phase sich offenbar in abgeschwächter Form fortsetzt.
Die Studie weist auch darauf hin, dass zwei Drittel derjenigen, die selbst zu Beginn der Virus-Pandemie ÖV oder ÖPNV für ihre Fahrten genutzt haben, mehr und mehr von der gemeinschaftlichen Nutzung mit anderen Fahrgästen Abstand genommen haben und statt dessen das eigene Auto oder das Fahrrad zur Fortbewegung nutzen bzw. sich zu Fuß fortbewegen. Zu welcher Fortbewegungsart werden diese Nutzer in Zukunft tendieren? Auch wenn die „grünen“ Fortbewegungsarten überwiegen (19 % wollen zu Fuß gehen, 8 % das Fahrrad nutzen, 2 % den E-Roller), so wird der motorisierte Individualverkehr nach wie vor erwähnt. Im Ganzen sagen 16 %, dass sie das Auto wählen werden, 2 % ein motorisiertes Zweirad.
Dass sich drei von zehn Fahrgästen in Zukunft möglicherweise verabschieden werden, ist mit Sicherheit ein Problem für die großen Transport- und Beförderungsgesellschaften Frankreichs. welche die Studie bei IFOP, einem Meinungsforschungsinstitut, beauftragt hatten. Die Aussagen, die in dieser Studie getätigt werden, sind umso verlässlicher, als in den Monaten September und Oktober – also zu Zeiten eines einigermaßen „normalen“ Lebens in Frankreich – die Auslastung der verschiedenen Beförderungsangebote zwischen 60 und 80 % im Vergleich zu Normalzeiten gelegen hat. Die Sorge ist zunächst einmal eine rein betriebliche. „Zwei Phänomene haben bei uns ein besonderes Augenmerk“, sagt Thierry Mallet, Transdev-Chef, einem der weltweit führenden Betreiber von öffentlichen Verkehrsmitteln. „Die Zunahme von Staus, verursacht durch Autofahrten von nur einer Person, und die vermehrte Mitnahme von Fahrrädern im ÖPNV. Beides verringert die Schnelligkeit und Pünktlichkeit von Bussen und Bahnen und senkt unsere Servicequalität.“ Die die Studie begleitende Pressemitteilung spricht von „exponentiellen negativen Effekten“, die von einer Rückkehr zum Automobil verursacht werden. Wenn in der Ile-de-France (der Ballungsraum Paris’) auch nur 10 % aller Fahrgäste des ÖPNV aufs Auto umsteigen, würde dies eine Steigerung von 40 bis 80 % des Fahrzeugaufkommens bedeuten, die im Berufsverkehr Richtung Paris-Zentrum fahren werden.
Ein weiterer Grund zur Sorge ist betriebswirtschaftlicher Art. Die Studie erinnert an die Verluste, die der Öffentliche Personenverkehr im Frühjahr während des ersten Lockdown erlitten hat: zwei Milliarden Euro entgangener Beförderungsentgelte, eine Milliarde Euro entgangener Steuereinnahmen bei den Städten und Gemeinden, außerdem 30 % weniger Fahrgäste, die entweder komplett auf ÖV und ÖPNV verzichten oder deren Nutzung mehr oder minder deutlich einschränken. Das wirkt sich wiederum erheblich auf die finanzielle Situation bei den Transportgesellschaften aus, deren Gewinnmarge nur gering ist und die nicht zuletzt Arbeitgeber für rund 260.000 Menschen sind.
In Anbetracht dieser Herausforderungen verfolgt die UTP ein klares Ziel: das Vertrauen zurückgewinnen. „Alle gewonnenen Daten sprechen dieselbe Sprache: Der Öffentliche Personenverkehr ist nicht der Ort, wo sich die Menschen in großer Zahl mit COVID 19 anstecken“, bekräftigt Mallet. „Nicht nur der Bericht der Santé publique France bestätigt dies, sondern auch die Arbeiten der American Public Transportation Association (PDF), die Universität Oxford, das Britische Rail Safety and Standards Board sowie die Universität von Boulder in Colorado.“ Die Umfrage zeige im Übrigen, dass 64 % der befragten Personen Vertrauen in ihren Verkehrsverbund haben, auch in Zukunft die Gesundheit der Passagiere schützen zu können.
Es gibt folglich nicht nur Negatives in der Studie zu berichten, die zeigt, dass 13 % der Fahrgäste sogar häufiger ÖV und ÖPNV nutzen als vor der Corona-Krise. „Einer der Gründe, der die Menschen dazu treibt, häufiger den Öffentlichen Personenverkehr zu nutzen, ist das gestiegene Umweltbewusstsein, das an zweiter Stelle rangiert hinter dem klassischen Nummer-Eins-Grund „Weil es am praktischsten ist“ und vor den früher häufiger genannten wirtschaftlichen Gründen“, freut sich Thierry Mallet. Diese Erkenntnis sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die bislang über Lockangebote versucht haben, den Verkehrsverbünden ein Öko-Siegel zu verpassen. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass ein Transport mit ihren Bussen und Bahnen zwischen 2 und 60 Mal weniger CO2 pro Passagier und Km freisetzt als ein Autofahrer.
Für die UTP kann die Krise eine Chance sein, ihr Angebot an alle Fahrgäste, sicher und komfortabel mit Bus und Bahn zu reisen, nochmal anzupassen. „Alle Studien zeigen, dass die Menschen den Wunsch haben, der Enge der Städte zu entfliehen. Mit der Ausweitung von Heimarbeit und Telearbeit und der Propagierung aktiver Fortbewegungsarten wie Gehen oder Fahrradfahren in den Stadtzentren, könnte der Öffentliche Personenverkehr weiter in die Vorstädte, Stadtrandzonen und den ländlichen Raum ausgedehnt werden. Mit vielen positiven Effekten. Im Umland würden sich die Bewohner weniger von der Außenwelt abgeschnitten fühlen, in den Innenstädten hingegen käme es zu einer Entlastung, weil weniger Personal und Fahrzeuge benötigt würden.
Originalartikel „30 % des usagers pensent renoncer aux transports publics“ erschienen am 21. November 2020 in der Printausgabe der Le Monde. Verfasser: Eric Béziat. Erweiterte Fassung.
Kommentar schreiben