Während Kulturorte verzweifelt versuchen, nicht unterzugehen, da ihre Aussichten auf eine Wiedereröffnung auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben werden und der Kampf um die Existenz mit jeder neuen Woche drängender, wird ein neues Credo immer lauter, das da heißt: Nichts wird so sein wie zuvor. Das hat man allerdings auch schon bei der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 geglaubt – und am Ende war dann doch wieder alles so wie früher. Vielleicht tun wir gut daran, diesen markigen Sprüchen von „alles wird anders“ zu misstrauen. Der Kulturbereich liebt es, sich selbst zu analysieren und psychologisieren, und Vorhersagen sind oftmals nur das Ergebnis von Aktivismus denn einer nüchternen Betrachtung.
Eine Sichtweise jedoch ist vorherrschend: Die von „Wir müssen die Schlagzahl verringern“. Sprich, der Eindruck herrscht vielerorts vor, dass es zu viele Ausstellungen, zu viele Events, zu viele Filmstarts, zu viele Bucherscheinungen gibt. Die nackten Zahlen zeigen, dass sich in den letzten 30 Jahren das kulturelle Angebot deutlich stärker aufgebläht hat als die Zahl der Besucher und Interessenten. Die Überhitzung ist ein Faktum. Dann kam das Virus … und nun ist vielleicht der Zeitpunkt günstig, darüber nachzudenken, zum Beispiel auf die teuersten Formate zu verzichten. Schluss mit aufwändig inszenierten Spektakeln und Konzerten. Schluss mit Ausstellungen, die jede für sich Aberhunderte von „Meisterwerken“ darbieten wollen, aus allen Erdteilen zusammengeliehen, den Blick ermüdend und die allein aufgrund ihres Formats dazu verdammt sind, immer mehr Publikum anziehen zu müssen, um rentabel zu sein.
Sylvain Amic, der als Direktor eines Museumsverbundes in Rouen (Normandie) gleich mehreren Kultureinrichtungen vorsteht, hat nicht bis zur Krise warten müssen, um in diesem Überbietungswettbewerb eine etwas zu einfache Geisteshaltung zu sehen, die zudem am eigentlichen Thema vorbeizielt. Im Fokus steht mal wieder die globalisierte Künstlerschaft. „Aktuell hört man wenig vonseiten der Künstler. Dabei könnten sie genau jetzt zu einer neuen Sparsamkeit zurückfinden,“ findet Cyrille Bonin, der den Rock-Veranstaltungsort Le Transbordeur in Villeurbanne betreibt. Der Zeitpunkt wäre günstig, den Kulturbetrieb ökologischer und nachhaltiger zu gestalten. Wir sollten aufhören, für einen Abend, ein paar Tage oder Wochen, für ein Festival oder eine Messe Künstler und Werke zusammenzutrommeln, die am Ende mehr Zeit im Flugzeug verbracht haben als auf der Bühne zu stehen oder an der Wand zu hängen. Ein wenig Genügsamkeit würde nicht schaden, wie damals, als die Gastronomie durch Slow Food erobert wurde.
Slow Food ist im eigentlichen Sinne die Keimzelle der Slow-Bewegung. 1986 vom italienischen Soziologen Carlo Petrini ins Leben gerufen, haben seine Überzeugungen weltweit einen starken Widerhall gefunden – nach eigener Aussage folgen mehrere Millionen Menschen in über 160 Staaten der Erde den Prinzipien gesunder, lokaler und nachhaltig gewonnener Nahrung. Ein Ableger der Slow-Food-Bewegung ist beispielsweise das Cittàslow-Netzwerk, in dem sich weltweit über 250 Städte zusammengeschlossen haben. Das gemeinsame Ziel: die Lebensqualität in Städten zu verbessern und die Uniformisierung und Amerikanisierung von Städten zu verhindern.
In der Philosophie der Slow-Bewegung finden sich folgende wichtige Aspekte:
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Weg von sog. Diffusionsinhalten (Streaming, Social Media, Fernsehen) und hin zu Fokusinhalten (Bücher, Zeitungen, Zeitschriften)
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Weg von der Sensationsgier, der Suche nach dem neuesten Kick und hin zu geduldiger Konzentration auf das Wesentliche
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Weg vom Multitasking, der gleichzeitigen Beschäftigungen mit mehreren Aufgaben oder Geräten und hin zu einer Versenkung in ein Thema oder eine Tätigkeit
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Weg von der Konsumsucht, der Jagd nach dem neuesten Schrei und hin zu weniger ist mehr, der Besinnung auf wenige gute Dinge
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Weg von der Ressourcenverschwendung und globalen Warenströmen und hin zu nachhaltiger, effizienter und lokaler/regionaler Qualität
(Quelle: Zukunftsinstitut, Wikipedia, Rethinking Prosperity)
Eine solche Sichtweise, übertragen auf den Kulturbereich, bietet Raum für neue Möglichkeiten: ein verringertes kulturelles Angebot, dafür regionaler, auf Frankreich begrenzt, außerdem nicht so kostspielig, geschaffen für ein bodenständiges Publikum, das aus dem Viertel, der Stadt oder der Region kommt. Manche haben die Erwartung, dass die Kulturorte so „sozial“ sein sollten wie das Museum der Schönen Künste von Montreal mit seinem Kunsttherapie-Ansatz. Der Hochschuldozent und Kulturfachmann Jean-Michel Tobelem wünscht ebenfalls ein einfacheres Modell, „denn es ist besser, sich den Arm abzuschneiden, als ganz zu sterben.“ Er geht noch einen Schritt weiter: Das Hauptaugenmerk sollte nicht auf die Künstler, sondern aufs Publikum gerichtet sein. „Das Geld sollte weniger an bereits geförderte Orte fließen denn eher an Netzwerke, in denen sich lokale oder regionale Künstler zusammenschließen. Heißt: weniger Geld nach Paris überweisen, dafür mehr in die einzelnen Regionen. Und es muss endlich Schluss damit sein, den Touristen unsere Viertel zu opfern. Ansonsten wird das Thema Kultur zum Auslöser einer neuen Bewegung in der Art der Gilets Jaunes."
Einige Macher aus dem Kulturbetrieb weisen jedoch ein solch populistisches Szenario mit dem Hinweis von sich, dass der globalisierte Kulturbetrieb zwar überwiegend den finanziell abgesicherten Stars der Kunstszene dient, aber auch vielen Tausend Kreativen zugute kommt, die aus weniger wohlhabenden Ländern stammen und die ihren ersten Auftritt oder die erste große Ausstellung in einem der hiesigen Museen, Theater oder Festivals haben. Sie nicht willkommen zu heißen, wäre ebenfalls wenig nachhaltig und sozial.
Der Betrieb der großen Theater, Konzertsäle, Museen oder Festivals folgt einem gemeinsamen Impetus: dem Erhalt der Exzellenz. Davon abzuweichen hieße, Kunst nicht mehr mit dem nötigen Ernst betreiben zu wollen – so als würde der FC Barcelona darauf verzichten, Lionel Messi als Spieler aufzustellen. Zudem sind weder Ausstattung noch Personal darauf ausgelegt, dauerhaft auf Sparflamme zu laufen. Diese Einrichtungen, von der Öffentlichkeit gemeinhin als Quelle von Ästhetik und Genuss wahrgenommen, fechten hinter den Kulissen zum Teil heftige Konkurrenzkämpfe aus, wie man sie eher in der Ölbranche oder dem Einzelhandel vermutet. Jetzt weniger Engagement zu zeigen hieße, die Gefahr einer Deklassierung zu heraufzubeschwören. Außerdem wären nicht zuletzt Arbeitsplätze in Gefahr und ein hoher Schuldenstand drohte.
Dann also weniger Spektakel weltweit veranstalten? Das ist das, was zurzeit sowieso landauf, landab geschieht – bei geschlossenen Kinos und arbeitslosen Beschäftigten. Weniger Kunstmessen abhalten? Kunstgalerien erzielen an solchen Orten rund 30 % ihres Umsatzes. Weniger Weltstars? Dabei sind es genau sie, die die großen Veranstaltungsorte am Leben halten, weil die bekannten Gesichter in der Regel das große Publikum anlocken. Jedes Jahr gibt es weltweit rund 50 Kunstausstellung rund um Picasso und seine Werke, weitere 100, in denen neben anderen auch Werke von ihm ausgestellt werden. Die sogenannten „kleinen Museen“, was auch immer man darunter verstehen mag, könnten ab dem 11. Mai wieder öffnen. Nicht zuletzt weil dort kaum oder wenig Publikumsverkehr herrscht. Dabei scheint man zu vergessen, dass Kunstwerke, welche die Massen anziehen – ob im Kino oder auf Musikveranstaltungen – Gelder freisetzen, die sich in weniger bekannte oder gewinnbringende künstlerische Arbeiten investieren lassen.
Solcherlei Zwänge hindern die Kulturverantwortlichen im Übrigen nicht, ihr Geschäftsmodell infrage zu stellen. Manche wollen ihr Angebot stärker auf das eigene Land ausrichten und weniger offensiv auf den Tourismus setzen. Lasst uns ein neues Gleichgewicht finden, meint Laurent Bayle, Präsident der Pariser Philharmonie. „Seit zwanzig Jahren ist die Kultur ein Teil der globalisierten Welt. In der Musik macht der Rückzug auf das Lokale oder Regionale überhaupt keinen Sinn. In der Lebensmittelbranche bin ich sehr für den lokalen oder regionalen Bezug, nicht aber in der Musik. Wir würden einen enormen Qualitätsverlust erleiden. Der Globalisierung hingegen einen Sinn geben, sie humaner zu gestalten, den Austausch von Gastmusikern weiter ausbauen – das wäre ganz in meinem Sinne.“
Bleibt noch anzumerken, dass wenn sich am Horizont die Umrisse einer slow culture in Frankreich abzeichnen werden, dies weniger einer echten Willensbekundung geschuldet wäre als vielmehr dem Mangel an Geld. Am Ende wird der Virus vielen Akteuren in diesem Land geschadet haben, manche werden ganz auf der Strecke bleiben. Die Öffentlichkeit wird hingegen die Möglichkeit haben, in zwei bislang völlig getrennte Welten einzutauchen: in die globalisierte Weltkultur mit Werken und Künstlern, die via Internet global Präsenz zeigen. Und in eine Kultur der Nähe, wahrhaftig, die an echten Orten oder auf Festivals erlebt werden kann. Diese Aussichten beunruhigt manchen kulturellen Akteur. Obwohl sie es natürlich nicht zu laut sagen, scheint die digitalisierte Kultur für einige jedoch zu funktionieren. Sie wird ihnen erst dann Angst einjagen, wenn es ihr gelingt, die physische Erfahrung ihrer Arbeiten und Werke in den Hintergrund treten zu lassen. Und das umso mehr, als die Digitalisierung den Graben zwischen den begüterten und den übrigen gesellschaftlichen Gruppen weiter vertiefen wird.
Originalartikel „La slow culture, bonne ou
nauséabonde?“ erschienen in der Printausgabe der Le Monde vom 2. Mai 2020, Verfasser:
Michel Guerrin. Erweiterte und überarbeitete Fassung.
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